Vögel, die auf Städte fliegen

TEXT STEFANIE REINBERGER
Es liegt malerisch, das Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen: eingebettet zwischen Wiesen, Weiden und Wald, am Ufer des Eßsees – dem Weiher, in dem Konrad Lorenz einst mit seinen jungen Graugänsen schwamm. Die gedämpfte Atmosphäre des trüben Novembermorgens verstärkt die Idylle noch. „Natur pur“ könnte denken, wer sich aus dem Trubel der Münchner Innenstadt auf den Weg hier raus gemacht hat. Doch halt: Sind da nicht Verkehrsgeräusche der nahe gelegen Landstraße?
„Ja, klar“, sagt Henrik Brumm, Leiter der Forschungsgruppe Kommunikation und Sozialverhalten. „Und neben den Geräuschen der Autos bekommen wir hier manchmal auch den Lärm des unweit gelegenen Flugplatzes in Oberpfaffenhofen mit.“ Verstädterung ist nicht nur ein Problem der Ballungsgebiete selbst. „Gerade Lärm strahlt weit in die ländlichen Regionen hinein.“ Brumm erzählt von einer Expedition ins Amazonasgebiet: „Selbst inmitten des Regenwalds, fernab jeglicher Zivilisation, habe ich Flugzeuge am Himmel über uns gehört.“
Verstädterung ist ein großes Thema unserer Zeit – für die Vereinten Nationen nach dem Klimawandel das dringlichste überhaupt. Derzeit lebt etwa die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, mit steigender Tendenz: Prognosen besagen, dass bis zum Jahr 2030 rund fünf Milliarden Menschen in Stadtgebieten siedeln werden. Megacitys entstehen und dehnen sich aus. Das zieht massive Umweltschäden nach sich, Müll etwa oder Luftverschmutzung.
„Auch Lärm ist ein großes Problem“, sagt Brumm und verweist auf eine ganze Reihe von Studien, die belegen, dass Krach krank macht. „Und natürlich nimmt er auch Einfluss auf Wildtiere, egal ob sie nun in Städten leben oder in ländlichen Regionen.“ Der Max-Planck-Forscher interessiert sich genau dafür. Dabei nimmt er insbesondere die Kommunikation von Vögeln unter die Lupe: ob und wie diese durch Lärm beeinträchtigt wird und welche Konsequenzen das für die Tiere hat.
Zu seinem Forschungsfeld kam Brumm bereits während seiner Promotion an der Freien Universität Berlin. Er untersuchte damals den Gesang der Nachtigall, einer Vogelart, die auch in Städten weit verbreitet ist. Allein in Berlin leben rund 1500 Brutpaare, überall dort, wo sich buschiger Bewuchs findet, den sie zum Nisten bevorzugen. Henrik Brumm stellte fest: Nachtigallen singen in einer lärmintensiven Umgebung lauter. Das geht sogar so weit, dass sie am Wochenende leiser trällern als an Werktagen, wenn der Berufsverkehr dröhnt.
Auch wir Menschen heben in lauter Umgebung die Stimme. Man spricht vom Lombard-Effekt, benannt nach dem französischen Ohrenarzt Étienne Lombard, der dieses Phänomen erstmals beschrieb. Bei Vögeln war dieser Zusammenhang allerdings neu. „Das war eine Überraschung, weil man damals davon ausging, dass Vögel immer mit maximaler Lautstärke singen“, sagt Brumm. Dass dies nicht der Fall ist, bewies er mit einem einfachen Experiment. Er hielt Nachtigallen in Volieren und beschallte sie mit weißem Rauschen – einer Art Hintergrundgeräusch, das sämtliche hörbaren Frequenzen umfasst und daher nicht als definierter Ton wahrgenommen wird. Und tatsächlich legten sich die Vögel auch unter Laborbedingungen beim Singen mehr ins Zeug, wenn in ihrer Umgebung Krach herrschte. Später stellten andere Forschergruppen fest: Manche Vogelarten singen in der Stadt auch höher als auf dem Land, Kohlmeisen etwa. Oder Amseln, wie Brumm – mittlerweile längst am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen – in einer Studie zeigte.
Hohe Töne gegen Straßenlärm?

„Wir haben uns gefragt, warum Vögel nicht nur lauter, sondern auch höher singen“, berichtet Brumm. Eine denkbare Erklärung ist, dass sich ein höherer Gesang besser vom tieffrequenten Straßenlärm abhebt. Ist er vielleicht über weitere Strecken zu hören? Und könnte das den Nachteil der Stadtvögel ausgleichen, dass sie lärmbedingt nur über halb so weite Distanzen kommunizieren können wie ihre Artgenossen auf dem Land? Die Forscher aus Brumms Team entwickelten ein mathematisches Modell, um diese möglichen Zusammenhänge zu überprüfen. Das Ergebnis war negativ: Zwar gelingt es durch höheren Gesang tatsächlich, Straßenlärm etwas zu kompensieren, der Effekt ist allerdings gering. „Bei Amseln klappt das gar nicht, da sie viel tiefer singen als etwa Kohlmeisen“, so Brumm.
Das höhere Trällern der Tiere könnte ein reiner Nebeneffekt der gesteigerten Lautstärke sein. Auch das kennt man vom Menschen: Wer schreit, hebt die Stimme in eine höhere Tonlage. Möglicherweise variieren Stadtamseln also ihren Gesang zugunsten der Lautstärke: mehr höhere Passagen, um lauter zu werden. Diese Hypothese prüft Henrik Brumm derzeit in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Jesko Partecke, der am Standort Radolfzell des Max-Planck-Instituts für Ornithologie forscht. Die beiden Wissenschaftler setzen dazu Amseln in schalldichte Boxen, in denen sie nicht durch Umgebungsgeräusche beeinflusst werden, und studieren deren Gesang. Demnach scheinen die Vögel höhere Töne tatsächlich lauter zu produzieren.