Quantenzauber im künstlichen Kristall

Ein dichter Wald aus münzgroßen Spiegeln, Linsen, Laserstrahlen und Glasfaserkabeln steht auf dem Labortisch am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching bei München. Einige Jahre hat allein der Aufbau die Forscher beschäftigt, und das Team um den Quantenphysiker Immanuel Bloch betreibt sogar mehrere solcher Experimente. Der Aufwand hat sich schon gelohnt. Blochs Forschungsresultate schaffen es meist dorthin, wo alle Wissenschaftler am liebsten publizieren möchten: in die Fachzeitschriften SCIENCE und NATURE. Ein Wunder ist das nicht, denn tief im Innern ihrer Experimente, im Vakuum und bei wenigen milliardstel Kelvin über dem absoluten Temperaturnullpunkt, erzeugen die Forscher etwas völlig Neues. Sie bringen Atome dazu, sich zu einer Art künstlicher Materie zu verbinden. Anders ausgedrückt: Hier entstehen Modellkristalle, die Phänomene hervorbringen, wie sie in realen Festkörpern nur schwer oder noch überhaupt nicht zu beobachten sind.
Da entstehen negative absolute Temperaturen, riesige „Superatome“ ordnen sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort in verschiedenen Mustern, fast so, als gäbe es die grundverschiedenen Kohlenstoffformen Graphit und Diamant in einem einzigen Kristall; oder Atome vollführen eine Art Pferderennen, bei dem es mehr Schnelle als Mittelschnelle und Langsame gibt.
Die Exotik der Phänomene liegt in der Quantenmechanik begründet, deren manchmal bizarr anmutenden Regeln sie gehorchen. Die Garchinger Physiker haben in den letzten zehn Jahren gelernt, der Quantenmechanik sozusagen bei der Arbeit zuzusehen. Sie beobachten, wie sich die einzelnen Atome des künstlichen Kristalls anordnen oder bewegen, und lernen dabei viel über Quantenmaterie. Darunter verstehen sie Systeme von vielen miteinander wechselwirkenden Quantenteilchen.
Die Forscher nähern sich damit einer Vision des US-Physikers Richard Feynman, der sich vor dreißig Jahren fragte, wie Computer hoch komplizierte Probleme der Quantenphysik lösen können. Mit herkömmlichen Computern gelingt das oft nur, indem man die Realität in Modellen stark vereinfacht. So sinkt der Rechenaufwand deutlich und kann von Supercomputern bewältigt werden. Das ist etwa der Fall bei der Berechnung der elektronischen Eigenschaften eines Festkörpers. Die bestimmen, ob und wie sich die Elektronen in seinem Innern bewegen, und damit auch, ob es sich also um einen Leiter, Halbleiter oder Supraleiter handelt.
In realen Festkörpern beeinflusst die Bewegung jedes einzelnen der Myriaden von Elektronen die Bewegungen aller anderen. Ähnlich wie Menschen in einem Aufzug: Will etwa eine im hinteren Teil der Kabine stehende Person aussteigen, müssen ihr alle anderen aus dem Weg gehen. So ergibt sich beim Versuch, die Bewegungen der unzähligen Elektronen in einem Material zu beschreiben, eine völlig unüberschaubare Komplexität. Daher vereinfachen Modelle die Situation: Sie nehmen an, dass jedes Elektron die anderen wie ein gleichbleibendes Hintergrundfeld wahrnimmt, das einen einzigen ruhenden Wechselwirkungspartner darstellt.
Ein Quantensimulator kann Supercomputer ausstechen

Doch diese Näherung ist oftmals unrealistisch. Und das ausgerechnet bei technisch interessanten Festkörpern wie den sogenannten Hochtemperatursupraleitern. Diese verlieren den elektrischen Widerstand bei relativ hohen Temperaturen von etwa minus 130 Grad Celsius. Wenn Physiker erst einmal verstehen, was mit dem System aus Elektronen bei diesem Übergang passiert, so die Hoffnung, lässt sich ein Supraleiter entwickeln, der bei Raumtemperatur Strom verlustfrei leitet. Ein verlustarmes Stromversorgungssystem wäre dann keine Science-Fiction mehr.
Science-Fiction bleibt es aber sicher auf unabsehbare Zeit, das quantenmechanische Verhalten der Myriaden von Elektronen in einem solchen Supraleiter exakt zu berechnen. Da dann viele Näherungen nicht gelten, müsste simuliert werden, wie jedes einzelne der Elektronen von jedem anderen Elektron beeinflusst wird – und das unter den komplexen Regeln der Quantenmechanik. Schon um dieses unüberschaubare Beziehungsnetzwerk für ein paar Hundert Elektronen zu erfassen, wäre ein Supercomputer mit mehr Speicherzellen nötig, als es Protonen im Universum gibt.
Feynman, unter Physikern berühmt für seine verständlichen Vorlesungen und kühnen Visionen, hatte eine Idee, das Problem zu lösen. Er schlug vor, schwierig zu beobachtende Quantensysteme mit solchen zu simulieren, die leichter zu studieren sind, sich jedoch analog zum Vorbild verhalten und rätselhafte Phänomene erklären können.
Vergleichbar ist das mit dem Vorgehen von Luftfahrtingenieuren, die die Aerodynamik eines geplanten Flugzeugs verstehen wollen. Sie bauen ein Modell und stellen es in einen Windkanal, wo sie die Luftströmungen bequem vermessen können. Dank der Analogie zwischen dem Modell und dem größeren Original können sie Messergebnisse von dem einen auf das andere übertragen. Quantensimulator nannte Feynman ein Modell der Quantenmaterie. Immanuel Bloch und sein Team haben gezeigt, dass ein Quantensimulator bei bestimmten Aufgaben tatsächlich Supercomputer ausstechen kann – doch davon später.